„Wir wischen uns das Glitzer aus dem Gesicht“

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Am letzten Freitag war es endlich soweit. Das Trouble Orchestra präsentierte nach dem genialen Halt den Mund und dem grandiosen Hit Staub der Straßen endlich ihren eigenen Longplayer. Und wie!

Ich gehe nicht oft zu Konzerten. Ständig gibt’s was anderes zu tun. Malochen. Studieren. Fußball. Organisieren. Hefte lesen und selber machen. Freund*innen treffen. Palavern… Da bleibt einfach viel zu wenig Zeit für Subkultur. Und deshalb war mir dieses Konzert so wichtig. Seit Wochen hab ich mich darauf gefreut und war gespannt. Als „Halt den Mund“ erschien, war der Track für für mich das Interessanteste, was ich seit langem gehört hab. „Staub der Straßen“, mit dem Wahnsinnsgesang von Marie Curry, und „Heiter“, das erste Appetithäppchen vom am letzten Freitag erschienenen, gleichnamigen Album, sind fette Ohrwürmer, die das Leben und die Freude abfeiern. „Graupausen“ hat mir erst nicht gefallen. Das war mir zu langsam. Und ehrlich gesagt hab ich gehofft, daß das Album nicht so leise ist, sondern ordentlich rockt, kracht und quietscht, also mehr nach „Halt den Mund kommt“.

Und dann war er da – der Freitag. Früh ging’s zum arbeiten. Leider dauerte das viel zu lange. Danach schon mal das Badehaus suchen und abchecken. Kurz nach Hause und was Essen. Schick machen und dann mit großer Vorfreude ab zurück zur Partymeile Simon Dach Straße, deren Umgebung immer mehr an die Hamburger Reeperbahn erinnert. Aber scheißegal! Das Trouble Orchestra lud ja ins gemütliche Badehaus und nicht in irgendeine Yuppiekaschemme.

Schon der Weg in‘ Friedrichshain war witzig. In der U-Bahn machte sich eine wandelnde Beatbox warm und zischte einen coolen Electrotrack zusammen. Snire, Breaks und Hochtöner – alles was dabei. Nur die Bässe fehlten. Als ich am Badehaus ankam, war noch relativ wenig los. Ein paar Babelsberger*innen aus der Nordkurve schlichen zwar schon rum. Und Theologiestudent*innen diskutierten irgend was Spirituelles. Für mich ist sowas ja nix, deshalb ging’s schnell rein, ins Badehaus zu ’ner Molle, mit gespannter Vorfreude. Kralle Bräu gab’s zwar nicht, aber das Andechser Doppel-Bock für die Begleiter*in und ’nen gezapftes Jarosover waren ein guter Ersatz.

Das Badehaus ist übrigens eine feine Location – nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Der Barraum ist halb so groß wie der langgezogene Konzertraum. Zweihundert Leute sollen da rein passen. Wie viele es wirklich sind, mag ich nicht einzuschätzen. Aber die Zahl dürfte schon passen. Schön fand ich, daß die Bühne recht flach ist und das Publikum so den Akteur*innen ganz schön auf die Pelle rücken kann. Die sonst übliche Abgrenzung fällt so weitestgehend weg und wird durch Nähe ersetzt. Der Performance des Trouble Orchestra kam dies, denke ich, zu Gute. Zumindest hatte ich das Gefühl, daß die Kraft und die Emotionen so weitestgehend ungefiltert das Publikum erreichte. Und so sind wir schon beim Konzert, beim Release des ersten Longplayer des Trouble Orchestra, daß endlich nach eineinhalb Jahren intensiver Probenarbeit einem gespannten Publikum präsentiert wurde.

So entspannt, wie die Musiker*innen schon vorher durch’s Badehaus wuselten, ging’s los. Keine überspannte Ansage. Kein plumpes Zack! Da sind wir endlich. Nix Spektakuläres versuchte irgendeinen großen Kracher zu imitieren. Sie kamen einfach auf die Bühne. Stimmten die Gitarren und den Bass. Und legten los – und zwar mit Heiter. Dieser Track ist für mich pure Lebenslust, eine Hymne für ein anderes Leben. Der Rhythmus und die Melodie treibt vorwärts. Der Refrain zwingt dich schnell mitzusingen. Und musikalisch deutet „Heiter“ an, was in den anderen Liedern noch intensiver ausprobiert wird. Der Rhythmus und Tempo, Sprechgesang und ’ne tolle Melodie im Refrain sowie die Tonhöhen wechseln. Eine krasse Dynamik entsteht. Toll! Graupausen, die zweite Auskopplung, die mich nicht gleich überzeugt hat, macht live erst richtig Sinn. Die Melancholie verschwindet dann etwas hinter den gebrochenen Gitarrenriffs. Der Gesang ist sowieso schön. Ähnlich ruhig und anders schön ist „Ruhig am Meer“. Eine schöne städtische Ausstiegsgeschichte.

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Richtig krass wurde es aber mit „Flirren“. Was für’n Track. Hammer! Für mich ist diese Komposition unglaublich. Musikalisch fließt alles zusammen. Abgefahrene Rythmen, Eine Dynamik, die nicht aufhört sich immer einen neuen Weg zu suchen. Eine Wahnsinnskraft… Es flirrt tatsächlich. Und es wird erstmals sichtbar, was für mich Trouble Orchestra ausmacht. Live wird erlebbar, was die Band ist. Denn: Sie kam mir vor allem bei der Performance in „Flirren“ wie EIN Organismus vor – ein lebendiger, pochender, aufeinander sensibel eingespielter, ineinander fließender Körper. Die Band erscheint als ein Kollektiv. Wobei die einzelnen Individuen und ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und musikalischen Hintergründe nicht verschwinden, sondern immer sichtbar bleiben. So unterschiedlich jede*r auch sein mag – sie pulsieren zusammen. Und das kommt auch im Publikum an.

Nachdem das Flirren ausklang, setzt das Funkeln ein und lädt nach einer (antikapitalistischen) Afterpartyanekdote zum Mitgröhlen ein. Besonders mir als fankulturaffinen Kurvengänger*in bot sich nun die Möglichkeit mal so richtig aus sich rauszugehen und auch außerhalb des Stadions mal dem chorischen Gesang zu fröhnen. War ’ne schöne Einstimmung darauf, was am Folgetag in der Nordkurve Babelsberg beim wichtigen Spiel gegen die Charlottenburger*innen abgehen mußte und auch stattfand. Da sieht mensch – die musikalisch künstlerische Performance auf einer Bühne und in der Kurve sind gar nicht soweit voneinander entfernt. Aber darüber hab ich aber ja schon öfter in meiner Kolumne Wat’n Theater im Ultra Unfug geschrieben. Die können übrigens auf dem Blog der Brigata Amaranto nachgelesen werden. Aber egal – zurück zum Konzert!

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Der nächste Track begann düster und erzählt erschreckend intensiv, was es heißt in einem Land unerwünscht zu sein. „Angst“ ist wie die ohnmächtige Schwester des nicht minder erschütterndem Nur Angst, kein Respekt von den Schlagzeiln. Die Berliner*innen erzählen vom Weitermachen nach dem Trauma, das durch Repression und Knast ausgelöst wird. Die Erfahrung nach einer politischen Aktion einzufahren wurde von Refpolk und Kobito nicht heroisch und stählend verklärt, sondern im Gegenteil erschreckend ehrlich als Einbruch der Gewalt beschrieben. Die „Angst“ des Trouble Orchestra erweitert die Perspektive. Das Individuum, das bei den Schlagzeiln noch mit Solidarität rechnen konnte und deshalb die Angst überwinden kann, hat nichts mehr. Isoliert und ohne jeden Respekt bleibt eben doch nur noch Angst. Bei diesem Track mußte ich fast heulen…

Weitere Höhepunkte des Konzerts waren für mich neben dem Lied über die Menschen mit „Abzeichen auf’m Hemdchen“, die Knäste haben und „blau blinkende Lämpchen“ vor allem „Nussschale“ und „Verzogen“. Ich mag einfach diese abgefahrenen Lieder, die so sanft und ruhig beginnen und sich in einen beinah schon symphonisch hypnotischen, breiten Soundteppich erweitern. In „Nussschale“ ist es die Verweigerung des erwarteten lauten Refrains. Außerordentlich ist außerdem das Zwischenspiel, das an Neil Youngs Soundtrack zu Jim Jarmuschs Dead Man erinnert. In „Verzogen“ ist es das Treibende sowie die krassen Rhythmus- und Geschwindigkeitswechsel im Refrain, welche die Komposition zu was Besonderem machen. Diese beiden abschließenden Songs runden den Longplayer super ab. Und sie beendeten den Hauptteil des Releasekonzerts. Zumindest, soweit ich mich erinnern kann.

Danach war aber noch nicht Schluß. Schließlich fehlten noch die Hits – nämlich Halt den Mund, bei dem ein fettes „Raven gegen Deutschland“ durch’s Badehaus schallte, und das fröhliche Staub der Straßen. Richtig gut kam auch Nazifreie Zone von Captain Gips. Klang nicht schlecht, wenn die Anwesenden ’nen klares antifaschistisches Statements abgaben. Sowas sollte es öfter geben. Und nicht nur beim Konzert. Sondern überall!

Also: Das Konzert war der Hammer. Meine schon hohen Erwartungen wurden weit übertroffen. Ich kann allen nur empfehlen, holt euch die Platte bei Audiolith – egal ob auf Vinyl oder als Disc. Hört die Tracks immer und überall. Und vor allem: Geht zu den Konzerten! Denn live sind die Leute vom Trouble Orchestra noch mal ’nen Zacken krasser. Die Kompositionen werden wirklich lebendig. Und die Performance des Kollektivs ist dann noch beeindruckender. Nächste Chance, die Band krachen zu sehen und deinen Gehirnmuskel trainieren zu lassen, ist auf dem Sonar Festival gegen den Rassistischen Normalzustand in Lüneburg, beim Fight Back! Festival in Nürnberg usw

Und eins noch: Nach der Revolution lassen wir das Glitzer endlich im Gesicht!

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